Press room – MyBike 5/2023: Report HP Velotechnik

 

HP Velotechnik HP Velotechnik in the news: the following text is an excerpt from the German magazine “MyBike”, issue 5/2023. We recommend to order the complete magazine from the publishing house to read the whole story. 

Dreißig Jahre auf dem Buckel

Als Hersteller von Spezialrädern hat man es nicht ganz einfach. Kleinerer Kundenkreis, viele Sonderanfertigungen, viele Auflagen – dass und wie sich zwei Schüler trotzdem mit ihrer Idee durchgesetzt haben, zeigt unser Besuch der Liegeradmanufaktur HP Velotechnik nahe Frankfurt.

Mit 18 beziehungsweise 20 Jahren machten sich das „H“ und das „P“ in HP Velotechnik Gedanken, wie man selbst bei Regen ohne nassen Hosenboden zur Schule kommen könne. Das Ergebnis dieser Gedankenspiele von Paul Hollants und Daniel Pulvermüller steht heute fast unscheinbar in den Werkshallen der Liegeradschmiede. Es war damals eher die voluminöse Schutzhaube, welche die liegende Position und auch Notwendigkeit eines dritten Rades nach sich zog, als umgekehrt. Die Haube ist gewichen, das Liegerad als innovatives Verkehrsmittel und Sportgerät, kurz Velotechnik, geblieben.

In Kriftel bei Frankfurt konstruieren und montieren rund 60 Leute die aufwändigen Fahrräder – vom zweirädrigen, leichten Sportler bis zum S-Pedelec-Dreirad oder seit neustem sogar bis zum Handbike. Gerade wurde auf der Eurobike feierlich der ehemals schnellsten Frau auf zwei Rädern ein solches Modell übergeben: Die ehemalige Bahnsprinterin Kristina Vogel ist seit einem Trainingsunfall auf die alleinige Kraft ihrer Arme angewiesen. Mit ihrem HPV-Handbike hat die Olympiasiegerin nach eigener Aussage „ihre Leidenschaft fürs Rad wiedergefunden“.

Alles etwas anders

Beim Gang durch die Hallen fällt auf: Im Verhältnis zum eigentlichen Montagebereich sind Teilelager und Werkstatt überdurchschnittlich groß. Fertige Räder sieht man fast gar nicht. Das Leid eines Spezialradherstellers ist nämlich der deutlich geringere Anteil an Standardteilen, den man über die komplette Modellpalette hinweg verwenden kann. Das fängt bei den Vorderrädern eines Trikes an, deren Nabe nur auf einer Seite befestigt werden, setzt sich in Lenkerkonstruktionen unterm Sitz und im Sitz selbst fort und endet im eigens konstruierten Rahmen nebst optionalem Faltmechanismus.

Wenn man alle Varianten an Modellen, Radgrößen und Ausstattungsmerkmalen hochrechnet, bietet HPV unfassbare 400.000 mögliche Kombinationen an, die 400 lieferbaren Rahmenfarben nicht mal mitgerechnet. Das ist auch der Grund, warum kaum fertige Bikes in der Verpackungsabteilung warten: Man baut kaum auf Vorrat, da die Wahrscheinlichkeit, dass genau dieses Rad geordert wird, recht klein ist. Und die Bedürfnisse von Spezialrad-Kunden sind ganz offensichtlich deutlich weiter gestreut.

Unter der Decke der Werkshalle hängen je nach Auftragslage mal mehr, mal weniger vorbereitete Rahmensets. Zwischen vier und fast fünfzehn Stunden ist ein Mechaniker mit dem Aufbau eines solchen Fahrzeugs beschäftigt. Dabei treten Probleme auf, die ein klassischer Radmonteur gar nicht kennt. So muss bei den dreirädrigen Modellen die Spur, also Ausrichtung und Neigung der Räder, eingestellt werden wie beim Pkw. Die Kabel des Antriebs sind nicht nur eine ganze Ecke länger als beim Aufsitzpedelec, sie dürfen trotz längenverstellbarem und oft auch noch faltbarem Rahmen nicht knicken oder abreißen.

Auch einen klassischen Montageständer kann man bei HPV nicht wirklich brauchen. Sowohl die Karusselle zur Vor- als auch die Stative für die Endmontage der Bikes je nach Kundenwunsch mussten erst angefertigt werden, da konnte man nicht einfach bei Park Tool bestellen. Und so wundert es auch nicht, dass neben den Fahrradprototypen auch etliche Werkzeuge, Halterungen und Schablonen gleich nebenan in der Metallbau- und Elektronikwerkstatt gefertigt werden.

Die kurzen Wege sind es, die in diesem Zusammenhang immer wieder als Wettbewerbsvorteil hervorgehoben werden. Die Rahmen und einige wenige Anbauteile werden zwar in Taiwan gefertigt, es gibt aber nicht das sonst weit verbreitete Entwicklungs-Pingpong, bei dem sich Werk und Planungsbüro über Wochen und Monate Pläne, Samples und Änderungen über weite Distanzen zuschicken. In Kriftel werden neu Ideen der Gründer, vom Ingenieur Martin Wöllner oder einem der Mitarbeiter in der und im Umkreis von ein paar Kilometern um die Halle entworfen, gebaut, Probe gefahren, verbessert, umgebaut und wieder Probe gefahren, und erst am Ende gehen die Daten für die Serienproduktion nach Asien.

Dass eine Neuentwicklung mal komplett für „die Tonne“ ist, war laut Wöllner übrigens ganz selten der Fall. 60 Prozent der Entwicklungsarbeit würde in seinem CAD-Computer stattfinden, sodass man am ersten fahrenden Rad dann eher noch Detailoptimierung vornehmen müsse. Gerade die Handhabung, also Kontaktstellen von Mensch zum Rad sowie die Sitzposition, seien am Rechner nur grob zu kalkulieren; da verlässt man sich dann wieder aufs Gefühl im Popo und den Händen von Daniel Pulvermüller und seiner im wahrsten Sinne erfahrenen Crew.

MYBIKE 5 23 Firmenportrait HP Velotechnik 2

36.000 Teile

Während der Begehung der „heiligen Hallen“ huscht ein Mitarbeiter an uns vorbei in einen der Gänge des Teilelagers und fischt im Vorübergehen ein paar Komponenten aus den Kisten. Es sind drei von insgesamt rund 4.200 verschiedenen Teilen, die an einem HP-Velotechnik-Rad verbaut sein könnten. In den ersten Wochen laufe man noch etwas verloren zwischen den Hochregalen herum, aber nach drei Jahren brauche er kaum noch das digitale Lagersystem zum Auffinden. Allein die Wand mit den unzähligen Schrauben, Ringen und Muttern unterschiedlichster Konfiguration scheint jedes Baumarktregal zu toppen – hier den Überblick zu behalten, Respekt! Schließlich könnte ein leeres Fach hier den Aufbau einer ganzen Modellreihe stoppen, logistisch ist es sicher nicht der einfachste Weg, Spezialräder herzustellen.

Die vielen Kombinationsmöglichkeiten von Rahmen und Komponenten führten aber unweigerlich mal dazu, dass es das nötige Teil einfach noch gar nicht gebe, so Alexander Kraft, der sich um die PR im Haus kümmert. Hier sei es von unschätzbarem Vorteil, dass man gleich im Nachbarraum nicht nur das entsprechende Werkzeug habe, sondern auch Experten, die damit Spezialteile in Stückzahl eins herstellen können.

Neben einer bunt gemischten Truppe und einigen Azubis fällt uns ein Herr auf, den wir zunächst für Hollants oder Pulvermüller senior hielten. Der 87-jährige Metallbauexperte ist aber alles andere als nur Repräsentant – Jakob Lamnek bringt mit seinem handwerklichen Know-how und seiner Akribie noch etliche Wochenstunden besonders in die inhäusige Teile- und Werkzeugfertigung ein. „Special need“-Teile wie die Ergopedale mit Unterschenkelfixierung seien so selten gefragt, dass sie nicht komplett im Auftrag gebaut werden können. Und als zum Beispiel während des Teilestaus aus Asien 2020 das Material für die gekoppelte, weil zwei Vorderräder gleichzeitig bedienende Bremse ausging, setzte man sich in Kriftel umgehend an eine Eigenentwicklung, anstatt auf den nächsten Container zu warten.

Hier wiederum sei es sogar von Vorteil, als Spezialradhersteller eben nicht so viele Standardteile zu benötigen. Das mache weniger abhängig. Aktuell sei die Lage prima, so PR-Mann Kraft. „Wenn China sich einmal kräftig schüttelt“, so nimmt er das Marktanteilsgefälle auf die Schippe, „sind wir wieder für ein halbes Jahr versorgt.“ Rund 2.000 Bikes baut und verkauft HPV pro Jahr, hauptsächlich in Zentraleuropa und den USA, aber auch in Japan, Arabien und Norwegen, wo im Gegensatz zu den allermeisten Ländern der Erde Spezialräder von den Krankenkassen bezuschusst oder übernommen werden.

Trikes, Tempo und der TÜV

Apropos: Handbikes wie das für Christina Vogel sind nicht der einzige Vorstoß in die Gefilde von Reha und Co. Während die liegende Position und die drei Räder bisher eher dem Komfort und der Stabilität bei sportlicher Gangart gedient haben, nimmt man die verschobene Alterspyramide zum Anlass, Modelle auch in die Seniorenrichtung weiterzudenken. Für den aktuellsten Spross, das Delta tx, habe man zum ersten Mal von Anfang an mit Motor geplant und die zweirädrige Achse nach hinten gepackt. Mit einem Rad vorne gelingt der Einstieg deutlich leichter, die Kippstabilität ist trotz deutlich aufrechterer und höherer Sitzposition als bei allen anderen Modellen zuvor noch ziemlich gut. In Kombination mit einem von der Trittfrequenz und nicht von der Tretleistung abhängigen Bafang-M300-Motor, dem weiten Vorlauf des Vorderrades, was einen souveränen Geradeauslauf bringt, und der orderbaren Automatikschaltung ergibt sich ein Rad, das maximale Sicherheit und Konzentration auf den Verkehr ermöglicht.

Die Belange von körperlich Eingeschränkten hat die Firma bei ihren Entwicklungen seit Langem mit im Blick, etwa fünf bis sechs von hundert Bikes verlassen die Firma mit An- und Umbauten für sehr spezielle Bedürfnisse. HPV ist nicht nur als Medizingeräte-, sondern auch als Fahrzeughersteller beim Kraftfahrzeugbundesamt gelistet. Letzteres, damit man nicht für jedes schnelle S-Pedelec zwecks Einzelabnahme beim TÜV vorsprechen muss. Das gilt zwar für alle Hersteller der „verschärften“ E-Bike-Variante. Während aber die Standards für einspurige S-Pedelecs lange vorliegen, hat es rund ein Dreivierteljahr und unzählige Termine gebraucht, um das erste S-Trike zu homologieren. Erst mit Blinker und einem Schauglas für die Hydraulikflüssigkeit der Bremsen sowie einem Positionslicht vorne – Details, die man eher von Motorrädern kennt als von Pedelecs – gaben sich die Prüfer zufrieden. Weitere Anbauteile, die in marginalen Stückzahlen erdacht, gefertigt und oder ins System integriert werden müssen.

Die Verkaufszahlen bei HPV stiegen stetig, und das seit Jahren ziemlich zuverlässig, so Pressemann Alex Kraft. Das sei Vor- und Nachteil zugleich bei Spezialradherstellern. Nachfrage und Fangemeinde seien überschaubar, aber konstant, man unterliege dafür auch keinen extremen Schwankungen durch Trends. Ob die komplizierte Logistik fünffache Stückzahlen überhaupt leisten könnte, ist schwer zu sagen. Irgendwie hat man aber auch das Gefühl, die Krifteler fühlen sich ganz wohl in ihrer Nische als Spezialradhersteller. Immerhin kann man bei HPV stolz behaupten, schon mehrere Tausend zufriedene Kunden „aufs Kreuz gelegt zu haben“! Beweis: Derzeit gebe es nicht wenige Kundenanfragen nach einem Upgrade des treuen Wegbegleiters zum Pedelec. Solch ein Invest macht man nicht bei einem Rad, mit dem man nicht zufrieden war.

Text: Timo Dillenberger, Fotos: Helge Tscharn